Revolutionäre Erkenntnisse rund um den Darm stellen bisherige Theorien auf den Kopf: Gemeinsam mit 100 Billionen Mikroorganismen bildet jeder Mensch einen sogenannten Superorganismus. Das komplex ineinander greifende Miteinander von Mensch und Mikroorganismen sorgt für Gesundheit, gute Gefühle und bessere Gedächtnisleistungen und vieles mehr.
„Gesundheit beginnt im Darm“, eine Weisheit, die seit Urzeiten von Heilern weltweit intuitiv berücksichtigt wird. Eine Bestätigung dessen und bahnbrechende neue Erkenntnisse brachte das Human Microbiome Project (HMP). Es wurde 2008 vom Gesundheitsministerium der USA angeschoben mit dem Ziel das menschliche Mikrobiom, also die Gesamtheit aller Mikroorganismen, zu identifizieren und charakterisieren, die auf oder im Menschen leben. Viele Forschergruppen, auch außerhalb der USA, haben seither mehr als tausend Bakterienspezies mit molekularbiologischen Methoden beschrieben, die bisher völlig unbekannt waren. Sie erforschten zudem, ob, wie und unter welchen Voraussetzungen sich Veränderungen des Mikrobioms auf Gesundheit beziehungsweise Krankheit auswirken. Die Grundlagen sollen unter anderem neuartige Erkenntnisse für weltweit grassierende Erkrankungen wie Adipositas, Diabetes mellitus, Darm- oder Krebserkrankungen liefern.
Die Anzahl der Bakterien im menschlichen Darm ist gewaltig
Auf der Grundlage eines Genpools von hunderten gesunder Erwachsener wurden 2012 erste Resultate geliefert: Die Zahl der Erbgut-Abschnitte (Gene) der Mikroorganismen im menschlichen Körper wird auf rund 8 Millionen berechnet. Damit halten „unsere“ Darmbakterien rund 360 mal mehr genetisches „Gedächtnis“ vor als menschliche Zellen selbst (siehe Kasten zum Human Genome Project, bei dem diese Grundlagen entdeckt und die molekularbiologischen Hochleistungstechniken entwickelt wurden). Die Anzahl der einzelnen Bakterien des Mikrobioms eines einzelnen Menschen ist gewaltig: Etwa 100 Billionen Mikroorganismen tragen erwachsene Menschen mit sich herum [1]. In Anbetracht dieser neuen Situation philosophieren kluge Köpfe darüber, ob denn der Mensch weiterhin als „Krone der Schöpfung“ anzusehen sei. Oder ob nicht eher der Terminus „lebender Energielieferant“ oder „Mobilitätshilfe“ für Mikroorganismen richtiger sei. Beteiligte Wissenschaftler bewerten ihre Ergebnisse pragmatischer: Die komplexe Struktur des Menschen entsteht vermutlich nicht nur aufgrund seiner eigenen Gene. Sondern erst durch die Interaktion menschlicher Erbanlagen mit den Mikrobiom-Genen und den dadurch bewirkten Funktionen. Der Mensch ist also nicht allein, sondern bildet ein hoch vernetztes ökologisches System, einen Superorganismus, so lautet die neue Arbeitshypothese.
Das HMP setzte auf die wissenschaftlichen Erkenntnisse des Human Genome Projects (HGP) auf. Es wurde 1999 gestartet mit dem Ziel, das Erbgut (Genom) des Menschen vollständig zu entschlüsseln. Nach 13 Jahren der Kodierung und Sequenzierung der Gene von 1.000 freiwilligen Menschen wurde 2003 das HGP erfolgreich abgeschlossen. Das Ergebnis war eine Revolution, stellte bisherige Vorstellungen und Theorien auf den Kopf: Jeder Mensch hat nämlich nur etwa 25.000 bis 30.000 eigene Gene, die für Funktionen verantwortlich sind. Damit hat der Mensch gerade einmal doppelt so viel Erbanlagen wie eine Fliege (Pflanze 25.700 Gene, Wurm 18.300) oder nur halb so viel wie japanischer Reis [1, 2, 2a].
Mikroorganismen: Grundlage der Gesundheit des Superorganismus Mensch
Die Bedeutung dieses Ansatzes für die Vorbeugung von Krankheiten (Übergewicht, Herzkreislauf-Erkrankungen u. a.) und Behandlung (Zuckerkrankheit, chronische Darmentzündungen, Blutvergiftung) wird sich in den nächsten Jahrzehnten herausstellen. Schließlich steht die Erforschung des Mikrobioms erst am Anfang. Doch bereits jetzt ist ein Überblick über alle wissenschaftliche Arbeiten zum Mikrobiom unmöglich, da sich die wissenschaftlichen Erkenntnisse geradezu überschlagen. Als sicher gilt, dass Mikroorganismen Menschen überall dort besiedeln, wo Kontakt zur Außenwelt besteht: Auf der Haut, Nasen‑, Augen‑, Vaginalschleimhäuten, Mund‑, Rachenraum und im Darm. Allein im Darm ist die Besiedlung so gewaltig, dass die bakteriellen Darmbewohner bei einem Erwachsenen etwa zwei bis drei Kilo Gesamtgewicht auf die Waage bringen können. Je mehr Forschung betrieben wird, desto beachtlicher sind die Ergebnisse: Die Mikroorganismen sind an zahlreichen erforschten, vermutlich aber noch viel häufiger an völlig unerforschten Funktionen des menschlichen Organismus beteiligt. Insgesamt liefern sie – summa summarum – unverzichtbare Arbeit zum Wohle und dem biologischen Bestand jedes Menschen. Und nicht nur das: Mikroorganismen bilden sogar die Grundlage menschlichen Lebens und der Gesundheit, so sind Wissenschaftler heute überzeugt.
Spezialfall Mitochondrien
Überraschend ist die übergroße Verwunderung vieler Biomediziner, Religions- oder auch Kulturvertreter ob dieses „Superorganismus“ Mensch. Schließlich ist seit Jahrzehnten klar, was in jedem Biologie-Unterricht gelehrt wird, dass jede menschliche Zelle 1–2.000 Mitochondrien (Kraftwerke der Zellen) enthält. Und diese sind vor Urzeiten in die Zellen eingewanderte Bakterien, die sich eigenständig vermehren und ein eigenes Erbgut haben. Bereits dieses Faktum deutet auf gigantische symbiotische Beziehungen von Säugetieren und Bakterien hin. Eine wesentliche Konsequenz: Ohne unsere Endosymbionten Mitochondrien sind Menschen nur noch wenige Minuten lang lebensfähig.
Miteinander statt gegeneinander
Vorbei sind also die Zeiten, die deutsche Mediziner und Mikrobiologen wie Robert Koch oder Paul Ehrlich einläuteten. Sie sahen im 19. Jahrhundert Mikroorganismen als schädliche, gefährliche Krankheitserreger an, ja teilweise als Grundlage der meisten Erkrankungen überhaupt. Die Bakterien waren deshalb radikal zu bekämpfen, besser noch auszurotten, da sie zum Beispiel als Verursacher von großen Seuchen wie Cholera und Malaria galten. Ehrlichs „Therapia sterilisans magna“, die große Vernichtung aller Mikroben im Körper, war ein soziopolitisches Analogon des kriegerischen Europas der damaligen Zeit. Das sich aber, über zweiten Weltkrieg, Einführung der Antibiotika und den Kalten Krieg, bis in 21. Jahrhundert gerettet hat. Das alte Schwarz-Weiß-Denken der Infektionslehre, Zum Beispiel ihr brutaler, kriegerischer Sprachgebrauch, verdeutlichen dies: Das Bakterium Helicobacter pylori wird für die Entstehung von häufig vorkommenden Entzündungen und Geschwüren in Magen und Zwöffingerdarm verantwortlich gemacht. Selbst in den Lehrbüchern des 21. Jahrhunderts ist im besten Medizinerdeutsch von der Notwendigkeit der „Ausrottung“ (Eradikation) des Bakteriums die Rede. Ungeklärt ist bis heute, warum sich der Erreger bei einem Großteil aller Menschen findet, ohne zu gesundheitlichen Problemen zu führen.
Doch aufgrund der bahnbrechenden und Aufsehen erregenden Erkenntnisse der letzten vergangenen Jahre bahnt sich in der Mikrobiologie und Medizin ein Umdenken an. So schreibt die naturheilkundlich orientierte Ärztin Anne Katharina Zschocke in ihrem Buch „Darmbakterien als Schlüssel zur Gesundheit“: „Wir erleben eine umwälzende Veränderung, die wir mikrobiologische Revolution nennen können … Wenn sie klug fortgeführt wird, wird sie zu einer Sternstunde der Menschheit werden mit respektvollem Blick auf die bereits Millionen Jahre andauernder Verbindung zwischen Mikrobe und Mensch… Sie (die mikrobiologische Revolution) führt aus wachsendem Konflikt zu friedlicher Koexistenz, Frieden und Heilung“ [3].
Zschocke postuliert, dass die Menschen mit der Mikroben-Besiedlung, die sie in sich tragen, eine „Art Organ“ besitzen, welches Zugang zur Gesamtheit aller Mikroben auch außerhalb des menschlichen Körpers und deren „genetischen Gedächtnis“ ermöglicht. Nicht zuletzt, weil ebenfalls schon länger bekannt ist, dass völlig unterschiedliche Bakterienspezies miteinander Erbgut austauschen können (zum Beispiel sogenannte Resistenz-Gene, die gegen Antibiotika unempfindlich machen). Die Autorin bewertet dies als positiv, denn damit haben Menschen auch Zugang zu den Anpassungsfähigkeiten der mikrobiellen Überlebenskünstler, die seit Anbeginn der Erde gestalterisch an der Evolution mitwirken.
Mikrobiom beeinflusst Körper, Seele und Geist
Das Umdenken setzt denkwürdige Prozesse in Gang: War sich der Mensch bisher nur seiner Selbst bewusst, galt als Gestalter und verantwortlich für das eigene Leben – so lebt er als Superorganismus nun in einem partnerschaftlichen Team. In Gemeinschaft mit massenweise auftretenden mikrobiellen Lebewesen, von denen er bis dato nichts oder wenig wusste. Wenn Menschen bisher also annahmen, dass ihre ureigenen Gene ihr Selbst ausmachen, so gehen neueste Vorstellungen vom Gegenteil aus: Das Mikrobiom bestimmt überall mit. Eine amerikanische zusammenfassende Arbeit von der Stiftung für Integrative Medizin, New York, USA, beschäftigte sich beispielsweise mit den Einwirkungen des Mikrobioms auf das Gehirn: Bakterien können Neuronen des Magen-Darm-Nervenssystems direkt über den Vagusnerv stimulieren und Signale an das Gehirn senden. Sie beeinflussen darüber Stimmungen, Gefühle und sind an allen geistigen Fähigkeiten eines Menschen beteiligt. Also an der Wahrnehmung, Erinnerung, am Lernen, Orientieren und am Lösen von Problemen! Zukünftig werden sich Menschen vielleicht mehr mit ihrer Darmgesundheit auseinandersetzen. Denn beispielsweise eine langfristig bestehende bakterielle Dysbiose, also eine Überbesetzung von krankmachenden Darmbakterien oder eine im Dünndarm stattfindende bakterielle Überwucherung, kann die Darmschleimhaut nachhaltig schädigen. Sie wird durch krankmachende Bakterien durchlässig gemacht (engl. leaky gut). Dadurch gelangen bakterielle Giftstoffe, Krankheitserreger selbst oder schädigende Stoffwechsel-Endprodukte über die Blutgefäße und Lymphwege in den Körper. Diskutiert wird die Entstehung zahlreicher Erkrankungen hierdurch: Die Bandbreite geht von Sepsis, Allergien, Restless-Leg-Syndrom, Fibromyalgie, Zöliakie, Multiple Sklerose bis hin zum chronischen Müdigkeitssyndrom [4].
Die keimfreien Mäuse
Wissenschaftlern stehen mittlerweile Mäuse zur Verfügung, die vollkommen keimfrei sind. Diese Tierchen haben allerdings überhaupt nichts mehr mit den üblichen Mäusen gemein. Mäuse sind eigentlich flink, neugierig und ausgesprochen lernfähig, wenn sie Nahrung beschaffen müssen. Keimfreie Mäuse haben hingegen kaum solche mäusespezifischen Eigenschaften. Im Gegenteil: Sie bewegen sich kaum und sind an nichts interessiert. Wird ihnen jedoch, wie in zahlreichen Experimenten dokumentiert, Darmflora springlebendiger, normaler Mäuse übertragen – so verändern die keimfreien Mäuse nach kurzer Zeit ihr Verhalten – ins Mäusische sozusagen. Fazit: Auch charakterliche oder artspezifische Verhaltens-Eigenarten werden durch das körpereigene Mikrobiom mitbestimmt.
Unterernährte Darmflora: Übergewicht und Erkrankungen
Wissenschaftler wie beispielsweise Mark Mattson, Chef der Neurowissenschaften am US National Institute on Aging in Bethesda in Maryland, bringen Dysbiose-Folgeerkrankungen wie das Übergewicht mit dem bewegungsarmen Lebensstil und der Ernährung in Verbindung. Denn vorrangig werden in den Industrienationen trotz üppig gedeckter Tische Nahrungsmittel mit hohen Anteilen an Fleisch, Weißmehl, Zucker und gesättigten Fetten konsumiert. Doch von diesen Nahrungsmitteln werden Darmbakterien nicht satt. Besonders industriell hergestellte (Fast Food, Süßigkeiten) oder vorverarbeitete Lebensmittel (Fertignahrung) werden nachweislich schon im oberen Drittel des Dünndarms verbraucht. Von der Darmflora dringend benötigte spezielle Ballaststoffe fehlen weitgehend. Folglich senden Dickdarmbakterien Hungersignale an das Gehirn. Über Hunger- oder besser Appetitgefühle wird mehr Nachschub angefordert. Entsprechend der Ernährungsgewohnheiten folgen weitere zuckerhaltige Snacks oder Burger. Diese hinterlassen zwar ein kurzes Sättigungsgefühl, doch wieder kommt nichts bei den Darmbakterien an. Ein Teufelskreislauf entsteht. Neben vielen weiteren Ursachen gilt die Fehlernährung des Mikrobioms als Ursache für das grassierende Übergewicht oder die Fettsucht (Adipositas) in den Industrienationen. Zu weiteren Erkrankungen, die mit der Fehlbesiedlung vom menschlichen Mikrobiom in Verbindung gebracht werden, gehören chronisch-entzündliche Darmerkrankungen wie Morbus Crohn, Kolitis ulzerosa, chronische Verstopfung, Fettstoffwechselstörungen, Diabetes mellitus, Krebs- und Leber‑, Darmerkrankungen oder neurologisch- sowie psychiatrische Erkrankungen [7].
Je artenreicher eine Darmflora, desto besser für das Immunsystem
Unangetastet bei den neuen Forschungen ist die zentrale Rolle des Darms bei seiner Abwehr-Arbeit, dem Immunsystem: Gegenwärtig sind 1.000 verschiedene Darmbakterien-Stämme bekannt. Ihre Gesamtheit wird als Darmflora bezeichnet. Die Zahl der Darmbakterien variiert stark, je nach dem wo Menschen leben, oder wie sie sich ernähren. Einigkeit besteht in der Wissenschaft auch darüber: Je größer die Anzahl der Bakterienstämme, desto besser arbeitet das Immunsystem. Um dem Geheimnis der Zusammensetzung menschlicher Darmflora auf den Grund zu kommen, untersuchten Wissenschaftler vergleichsweise die Darmfloren der Menschen im Urwald, aus Dritte-Welt-Ländern und in den Industrienationen. Das Ergebnis: Die Vielfalt der Darmbakterien-Stämme von Urwald-Bewohnern war nicht zu übertreffen, weshalb sie über ein hervorragendes Immunsystem verfügen. Auch bei den Menschen, die in Dritte-Welt-Ländern leben – und die sich mit ihren landesspezifisch verfügbaren Nahrungsmitteln ernähren – ist der Artenreichtum der Darmfloren gut. Am „artenärmsten“ sind die Darmfloren der Menschen westlicher Industrienationen [5].
Erstbesiedlung der Darmflora
Die Besiedlung des Darms startet unter der Geburt. Das Kind trinkt ein paar Schlückchen des Fruchtwassers, wobei der bis dahin sterile Darm des Kindes zum ersten Mal mit Bakterien der Mutter in Berührung kommt. Auch beim Hindurchschieben durch den Geburtskanal übernimmt das Kind schützende Bakterien. Schmusen und enger Körperkontakt mit den Eltern fördert ebenso die „Übertragung“ von Teilen des elterlichen Mikrobioms. Diese erste „Impfungen“ sind wichtig für das weitere Leben. Untersuchungen ergaben, dass Kinder, die per Kaiserschnitt in die Welt geholt werden, diese Erstbesiedlung nicht haben. Wissenschaftler stellten bei Kaiserschnitt-Babys eine anders zusammengesetzte Darmflora fest. In manchen medizinischen Kreisen wird das vermehrte Auftreten von Auftreten von Allergien oder Neurodermitis bei Kaiserschnitt-Kindern mit der fehlenden Bakterien-Erstbesiedlung durch die Mutter in Verbindung gebracht. Zur Unterstützung des Baby-Immunsystems werden Stillen und Trinken von Muttermilch (statt Flaschenkost [6]) oder die spätere Fütterung von selbst hergestellter Beikost empfohlen. Im Laufe des Wachstums entwickelt sich die Darmflora immer weiter. Ebenfalls durch Studien belegt: Alle durchgemachten Infekte und Kinderkrankheiten trainieren und stärken das Immunsystem. Und: Das Aufwachsen auf dem Land mit Tieren und Leben in der Natur sorgt ebenfalls für ein artenreicheres Mikrobiom und damit für mehr Abwehrkräfte im Leben. Etwa mit dem dritten Lebensjahr ist das wie ein Fingerabdruck individuelle Mikrobiom des Menschen weitgehend ausgebildet und verändert sich – ohne störende Einflüsse von außen – im Lebensverlauf nicht mehr.
Zerstörung der Darmflora mit Antibiotika und Medikamenten
Schon seit vielen Jahren ist bekannt, dass Antibiotika oder manche Medikamente die Darmflora beeinträchtigen. Antibiotika beispielsweise töten nicht nur potentiell krankmachende, sondern ebenso nützliche Bakterien-Stämme. Art des Antibiotikums, Dosierung und Therapiedauer bestimmen die Auswirkungen auf die menschliche Darmflora. Eine Antibiotika-Behandlung kann ein Immunsystem K.O. setzen. Sind die nützlichen Bakterien im Darm weitgehend durch eine Antibiotika-Therapie abgetötet, übernehmen schädliche Keime die Kontrolle. Leicht nachvollziehbar ist also die große Infektionsanfälligkeit nach Antibiotika-Therapien. Ebenso schädlich verhalten sich andere Medikamente: Arzneien gegen Bluthochdruck oder die sogenannten Protonenpumpenhemmer (PPI), die bei Sodbrennen, Reflux, Magen- und Zwölffingerdarm-Geschwüre eingesetzt werden, als „Magenschutz“ – oder um den Helicobacter zu eradizieren [8]. Mit bestimmten Therapien werden also zentrale Funktionen des Superorganismus Schachmatt gesetzt.
Diätische und förderliche Maßnahmen für das Mikrobiom
Nach den bisherigen Darstellungen, stellt sich nun eine zentrale Frage: Welche förderlichen Maßnahmen gibt es für das Mikrobiom des Superorganismus Mensch? Im Folgenden ist der Blick auf die „guten“, nützlichen Darmbakterien gerichtet und wie durch diätetische Maßnahmen oder „Beifütterungen“ zum Beispiel von Nahrungsergänzungsmitteln vorbeugende wie positiv-verändernde Eingriffe durchgeführt werden können.
Darmbakterien sind hochspezialisierte Mitbewohner. Jeder Bakterien-Stamm hat sich sozusagen auf bestimmte Nahrungsmittel eingestellt. Stehen diese Nahrungsmittel zur Verfügung, ist ihr Überleben gesichert, wenn nicht, sind die Überlebenschancen verringert. Ernährungsgewohnheiten oder Änderungen der Ernährung (zum Beispiel im Urlaub) spiegeln sich also in der Darmflora wider: Wissenschaftler, die Darmfloren untersuchen, konnten anhand der Darmbakterien-Besiedlungen beispielsweise leicht Fleischesser oder Vegetarier ausmachen. Bei den Untersuchungen stellte sich eine generelle Tendenz heraus: Eine eher pflanzlich ausgerichtete Ernährung ist gesünder und zeigt positive Effekte. Denn es sind die „guten“ Darmbakterien, die vor allem Ballaststoffe benötigen, also faserhaltige Pflanzen-Bestandteile. Eine variationsreiche Ernährung bestehend aus frischem Obst, Gemüse, vollwertigen Getreideprodukten sichert eine gute Bakterien-Ernährung und außerdem Artenvielfalt unter den Ballaststoff liebenden Bakterien-Stämmen. Zur abwechslungsreichen Ernährung können auch Pflanzen mit Bitterstoffen gehören. Leider sind diese aufgrund der Ernährungs-Gewohnheiten – lieber süß als salzig, lieber sauer als bitter – oft herausgezüchtet worden. Doch auch Bitterstoffe übernehmen wichtige Aufgaben: Sie helfen beispielsweise bei der Ankurbelung des Fettstoffwechsels oder regen die Verdauung insgesamt an.
Warum Ballaststoffe?
Da Bakterien die Erde seit Jahrmilliarden besiedeln, ist die Zusammenarbeit mit Menschen eher kurz wie ein Wimpernschlag. Evolutionär verorten Wissenschaftler wie der Amerikaner Mark Mattson, die genetische Zusammenarbeit zwischen Menschen und Bakterien auch eher in den Anfängen der Menschheitsgeschichte: Lange bevor Menschen sesshaft wurden – also vor den Zeiten des Ackerbaus oder der Viehzucht – wanderten unsere Vorfahren täglich 60 bis 80 Kilometer auf der Suche nach Essbarem. Als Sammler lebten sie vorwiegend von Pflanzen und Pflanzenbestandteilen wie Wurzeln, Beeren, Nüssen. Das Erjagen von Fleisch bedeutete oftmals einen zu hohen Energieaufwand. Außerdem war Fleisch roh schwer verdaulich (erst das Feuer brachte Möglichkeiten der thermischen Vorverdauung des Fleisches mit sich). Die Nahrungsaufnahme war vorwiegend vom jahreszeitlich bedingten, pflanzlichen Angebot bestimmt. Jahrhunderttausende lang bestand auch kein besonders abwechslungsreiches Nahrungsangebot für den Großteil der Menschen zur Verfügung: In den gemäßigten Klimazonen war im Mittelalter bis in die Neuzeit hinein geschroteter Getreidebrei die Hauptnahrung. Dieser schmeckte nicht besonders gut, sondern diente lediglich der Energie- und Nährstoffversorgung. Nur zu Hochzeiten wurde geschwelgt, wenn der soziale Status ein angemessenes Fress- und Saufgelage ermöglichte – meistens mit schweren Folgen für die völlig überforderten Bäuche der Gäste.
Wider der gesunden Bakterien-Nahrung
Nun hat Ernährung mit Erziehung, Vorlieben und vor allem Gewohnheiten zu tun. Doch bekanntlich sind Gewohnheiten schwer zu ändern. Eine Ernährungsumstellung auf die empfohlene ballaststoffreiche Ernährung à la Steinzeit wird bei den meisten Menschen – wenn überhaupt – nicht gelingen. Erstens stehen außer Wildpflanzen kaum noch züchterisch unveränderte Pflanzen zur Verfügung. Zweitens sind die zivilisationsbedingten Verführungen einfach groß. Eine solche Ernährungsumstellung würde den weitgehenden Verzicht auf industriell hergestellte Nahrungsmittel mit all’ ihren notwendigen Konservierungs- und Zusatzstoffen beinhalten. Die Ernährung wäre stark auf Rohkost ausgerichtet. Und wenn Kochen dazu käme, wäre Selbst gekochtes das A und O. Darüber bestünde dann eine weitgehende Kontrolle über verwendete Nahrungsmittel wie sonstige Zutaten (Fette, Öle, Zucker, Konservierungsstoffe). Allerdings berichtet die Nationale Verzehrs-Studie von 2008 von einer völlig anderen Realität in Deutschland: 60 Prozent der Deutschen gehen mittags in Kantinen essen. Das gilt für Berufstätige, Schulkinder oder Studenten. Zeitersparnis wurde als häufiger Grund bei den Befragungen angegeben [9]. Nur die Senioren gaben bis zu 55 Prozent an, sich selber zu bekochen. Der moderne, oftmals stressige Alltag fordert also seinen Tribut. Möglichkeiten der positiven Darmflora-Beeinflussung – bei ansonsten gewohnter Ernährung – bietet die Zuführung von Pro‑, Prä- oder Synbiotika. Diese meist als Nahrungsergänzungsmittel angebotenen Produkte sollen die positiv wirksamen Bakterien-Stämme anregen und damit zur Gesundheitsförderung beitragen.
Probiotika
Probiotika sind Lebensmittel oder Nahrungsergänzungsmittel, die lebensfähige Mikroorganismen enthalten. Es sind Organismen wie Milchsäurebakterien oder Hefen, die im Joghurt, Kefir oder Sauerkraut vorkommen. Wichtig ist die Vergabe in ausreichender Konzentration, da die Milchsäurebakterien die Magensäure überstehen müssen, um dann in Dünn- oder Dickdarm anzukommen. Und: Den probiotischen Bakterien gelingt in der Regel keine nachhaltige Ansiedlung im Darm (wenn sie diesen denn überhaupt erreichen). Sobald kein Nachschub mehr durch Probiotika erfolgt, verschwinden diese Bakterien-Stämme wieder.
Präbiotika – Lebensgrundlage des Superorganismus
Präbiotika beinhalten schon per Definition von Gibson und Roiberfroid (1995) ihre Gesundheitsförderung: Präbiotika sind demnach „nicht verdaubare Lebensmittelbestandteile, die ihren Wirt günstig beeinflussen, in dem Wachstum und Aktivitäten von Bakterien-Arten im Dickdarm gezielt angeregt werden, und damit die Gesundheit des Wirts verbessern“. Präbiotika bestehen aus Kohlenhydraten, die Darmbakterien-Arten wie Laktobazillen, Bifidobazillen, Escherichia coli oder Bacteroides in ihrem Wachstum und Vermehrung fördern. Präbiotika können Polysaccharide, Inulin, Lactulose, Fructane oder Oliofructose enthalten. Diese Bestandteile werden häufiger einzeln oder in Kombinationen zu Nahrungsergänzungsmitteln verarbeitet und vertrieben. Als ein bedeutsames und häufig angewandtes Bakterienfutter hat sich Inulin herausgestellt. Inulin wird auch in der Lebensmittelindustrie zum Beispiel bei Joghurts als Mittel zur Verbesserung der Konsistenz verwendet. Es bringt zudem eine natürliche Süße mit. Magerquark mit Inulin statt mit Zucker und süßen Früchten beispielsweise kann ein alternatives, Darmbakterien-freundliches Frühstück sein. Inulin kommt außerdem in bestimmten Gemüsen oder Heilpflanzen vor: Schwarzwurzeln, Topinambur, Zichorie, Alant, Chicorée enthalten natürliches Inulin. Sie können als Nahrungsmittel leicht in der Küche verarbeitet werden.
Synbiotika
Synbiotika sind Nahrungsmittel, die sowohl Prä- als auch Probiotika enthalten. Das kann beispielsweise ein mit Oligofruktose und Inulin angereichertes Produkt sein. Die Auswahl ist groß, weil Hersteller Produkte mit unterschiedlichen Bakterien-Stämmen und Kohlenhydraten kombinieren. Dabei werden unterschiedliche Bakterien-Stämme wie ihre jeweiligen gesundheitsfördernen Eigenschaften angesprochen [10].
Noch eine gute Nachricht zum Schluss:
Bakterien reagieren aufgrund ihrer Aufgaben relativ schnell. Sie haben eine sehr kurze Zellteilungszeit. Damit lässt sich das Mikrobiom auch schon nach wenigen Wochen beeinflussen – vorausgesetzt weder Antibiotika noch Medikamente haben seine Funktion dauerhaft beeinträchtigt. Die Verwendung von Pro‑, Prä- oder Synbiotika unterliegt den eigenen Vorlieben, den finanziellen Möglichkeiten und – im besten Fall – den wissenschaftlichen Wirkungsnachweisen. Wichtig ist beim Ausprobieren solcher Produkte, dem Mikrobiom einige Zeit zur Reaktion zu geben. Im Übrigen lassen sich zum Beispiel chronische Darmprobleme wie Verstopfungen nicht von jetzt auf gleich beheben. Kurweise Einnahme von zum Beispiel Inulin-Probiotika bis zu zwei Monaten sind oftmals nötig. Tipp: Beim Ausprobieren solcher Präparate ist das genaue Beobachten der Stuhlfrequenz, Stimmungen oder Gefühle hilfreich.
Um Ernährungsgewohnheiten grundsätzlich zu verändern, bedarf es meistens sehr viel Engagement. Das Lesen von Sachbüchern zum Beispiel kann helfen, sich der umfassenden Bedeutung des eigenen Mikrobioms bewusst zu werden. Auf der Basis von Wissen und Verständnis lassen sich manchmal leichter Verhaltensänderungen durchführen. Dem britischen Vorbeugungs-Erfolgsautor Allen Carr sind mit seinem Buch „Endlich Wunschgewicht“ eingängige und unterhaltsame Beispiele gelungen. Er beschäftigt sich intensiv mit der „Gehirnwäsche“ durch Werbebotschaften der Industrie und familiäre Prägung, die unbewussten Ernährungsgewohnheiten zu Grunde liegen kann. Carr bietet verschiedene Alternativen und regt zum Selbst ausprobieren an. So können auch leichter eigene Werte-Vorstellungen oder lieb gewonnene Vorlieben umgestellt werden. Ganz im Sinne einer langfristigen Ernährungsumstellung mit vielen Ballaststoffen.
Autorin
• Marion Kaden, Berlin, 2017.
Quellen
[1] Arbeitskreis „Medizin, Ethik und Gesellschaft“: Das internationale Human-Genom Projekt. Stand, Ergebnisse, Perspektiven. Jena, Mai 2003 (PDF-Präsentation).
[2] Manook A, Hiergeist A, Rupprecht R, Baghai TC: Dickdarmmikrobiom und Depression. Der Nervenarzt. 2016; 87(11):1227–40 (Kurzfassungen: DOI | PMID).
[2a] Goff SA, Ricke D, Lan TH, Presting G, Wang R, Dunn M, Glazebrook J, Sessions A, Oeller P, Varma H, Hadley D, Hutchison D, Martin C, Katagiri F, Lange BM, Moughamer T, Xia Y, Budworth P, Zhong J, Miguel T, Paszkowski U, Zhang S, Colbert M, Sun WL, Chen L, Cooper B, Park S, Wood TC, Mao L, Quail P, Wing R, Dean R, Yu Y, Zharkikh A, Shen R, Sahasrabudhe S, Thomas A, Cannings R, Gutin A, Pruss D, Reid J, Tavtigian S, Mitchell J, Eldredge G, Scholl T, Miller RM, Bhatnagar S, Adey N, Rubano T, Tusneem N, Robinson R, Feldhaus J, Macalma T, Oliphant A, Briggs S.: A draft sequence of the rice genome (Oryza sativa L. ssp. japonica). Science. 2002 Apr 5;296(5565):92–100 (Kurzfassungen: DOI | PMID).
[3] Anne Katharina Zschocke: Darmbakterien als Schlüssel zur Gesundheit. Neueste Erkenntnisse aus der Mikrobiomforschung. Knauer, München, 2014 (Buch bei Amazon bestellen).
[4] Galland L: The Gut Microbiome and the Brain. J Med Food.17(12)2014:12611272 (Kurzfassungen: DOI | PMID).
[5] Michaela Axt-Gadermann: Schlank mit Darm: Das 6‑Wochen-Programm. Das Praxisbuch. Südwest Verlag, Random House, München, 2015 (Buch bei Amazon bestellen).
[6] Madan JC, Hoen AG, Lundgren SN, Farzan SF, Cottingham KL, Morrison HG, Sogin ML, Li H, Moore JH, Karagas MR: Association of Cesarean Delivery and Formula Supplementation With the Intestinal Microbiome of 6‑Week-Old Infants. JAMA Pediatr. 2016 Mar;170(3):212–9 (Kurzfassungen: DOI | PMID).
[7] Bürger M, Lange K, Stallmach A: Intestinales Mikrobiom und chronisch entzündliche Darmerkrankungen. Der Gastroenterologe. 2015 Mar;10(2):87–101 (Kurzfassung: DOI).
[8] Bengmark S: Gut microbiota, immune development and function. Pharmacol Res. 2013 Mar;69(1):87–113 (Kurzfassungen: DOI | PMID).
[9] Max Rubner-Institut (Hrsg.): Nationale Verzehrs-Studie II. Ergebnisbericht, Teil 1. Bundesforschungsinstitut für Ernährung und Lebensmittel, 2008 (PDF-Volltext).
[10] Bergheim I, Glei M: Darmmikrobiom und Ernährung. Rolle der Pre‑, Pro- und Synbiotika in Entstehung der Therapie ernährungsbedingter Erkrankungen. Gastroenterologe. 2015 March;10(2):116–21 (Kurzfassung: DOI).
Bildnachweis
• Marion Kaden, Berlin, 2017.
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